Die zunehmende Prekarität des Lebens
oder:
Die allgemeine Bedrohung


Der Begriff "prekär" heißt soviel wie "schwierig, bedenklich, misslich". Mit dem Begriff der "Prekarität" wird das Leben gesellschaftlicher Gruppen bezeichnet, die kein oder nicht ausreichend Einkommen erhalten, um menschenwürdig leben zu können.
In einem reifen Industrieland wie Deutschland liegt angesichts des Durchschnittsnetto-Einkommens sowie der Preise für Miete, Nahrung etc. derjenige Betrag, der für ein Leben ohne Not erforderlich wäre, bei mindestens 1.550 Euro.

Diesen Betrag könnte einigen LeserInnen recht hoch erscheinen, wenn man bedenkt, dass das Arbeitslosengeld II etwa ein Drittel dieser Summe bedeutet.
Wer die 1.550 Euro als Mindestbetrag für ein Leben ohne Not für zu hoch hält, dem sei gesagt, dass sogar das ifo-Institut von diesem Betrag ausgeht.
Da das Münchener ifo-Institut noch nie im Rufe stand, sich zugunsten der Arbeitenden oder gar zugunsten der Arbeitslosen zu äußern, dürfen wir davon ausgehen, dass 1.550 Euro Monatseinkommen tatsächlich der Minimalbetrag für ein Leben ohne Not in Deutschland sein dürften.

Als „prekär“ können wir demnach Niedriglohnverhältnisse bezeichnen, die unterhalb des Einkommens von 1.550 Euro liegen. Die Zersetzung des Sozialstaates, wie sie in der Regierungszeit von Helmut Kohl begonnen und unter Gerhard Schröder forciert worden ist, erhöht überdies das Risiko, in Armut zu geraten.

Die Debatte um prekäre Beschäftigungsverhältnisse ist nicht neu. Seit sie Anfang der 90er Jahre das erste Mal aufkam, war sie von folgenden Gegenüberstellungen geprägt: reguliert - dereguliert, gesichert - ungesichert, tariflich - tariflos, garantiert - entgarantiert.
Solche Gegenüberstellungen nahmen als einen Pol das Normale oder das Geregelte und als anderen Pol das Abnorme oder Ungeregelte. Heute droht bereits die Umkehr dieses Verhältnisses.

Galt unbefristete Arbeitslosigkeit lange als begrenztes Phänomen für wenige, so hat Langzeitarbeitslosigkeit inzwischen eine hohes Niveau erreicht.
Der Job mit tariflichen Arbeitsbedingungen, mit Existenz sichernden Löhnen, 38,5 Stunden in der Woche und lebenslang ist zum eigentlichen Ausnahmefall geworden.
Prekarität ist hierzulande deswegen ein Debattengegenstand geworden, weil die so genannten Normalarbeitsverhältnisse unter Druck geraten sind und das bereits seit Jahren.

Ein Blick in die Arbeitsrealität belegt, wie normal prekäre Arbeitsverhältnisse inzwischen sind. Der alte Blickwinkel von den fein säuberlich trennbaren Kern- und Randbelegschaften wird genauso unüblich wie die Vorstellung, es gäbe einen klar abgrenzbaren Niedriglohnsektor. Dazu ein Beispiel.
Aus Opel Bochum wird berichtet, dass inzwischen sich über 50 Firmen auf dem Werkgelände tummeln: Zulieferer, Leiharbeitsfirmen, ausgegründete Betriebsteile von Opel selbst. In einer Halle arbeiten somit unzählige Beschäftigte zu völlig unterschiedlichen Konditionen nebeneinander, manchmal machen sie sogar dieselbe Arbeit - allerdings unter komplett unterschiedlichen Tarif- und Entlohnungsbedingungen.
Selbst dort, wo Arbeitsbedingungen tariflich reguliert sind, sind sie alles andere als sicher oder Existenz sichernd. Auch tarifliche Arbeitsplätze sind häufig genug befristet und/oder werden mit Niedriglöhnen bezahlt.
Von 2.800 Tarifverträgen in Deutschland beinhalten 130 Stundenentgelte von sechs Euro und weniger. Das neue Tarifwerk im Öffentlichen Dienst führt explizit einen Niedriglohnsektor ein. Die früher mal weggekämpften Leichtlohngruppen werden nun wieder etabliert. Tariföffnungsklauseln und Sondertarife für BerufsanfängerInnen, NeueinsteigerInnen oder ausgegründete Betriebsteile sind inzwischen üblich.

Über ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten arbeiten in Deutschland zu Niedriglöhnen, wie gesagt häufig genug tariflich. Da sind die "klassischen" prekären Beschäftigungsverhältnisse wie Minijobs, Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit etc. noch gar nicht enthalten.
Sechs Millionen MinijobberInnen hat es bereits Ende 2004 in Deutschland gegeben. Gemessen an der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten war das ein gutes Viertel.
Auch die diversen Formen der öffentlichen geförderten Beschäftigung dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, zumal sie flächendeckend in 1-Euro-Pflichtarbeiten umgewandelt werden.

"... den besten Niedriglohnsektor von Europa geschaffen" zu haben, damit rühmte sich Bundeskanzler Schröder zum letzten Weltwirtschaftsgipfe in Davos.
Das Statistische Bundesamt von Wiesbaden belegt, dass Schröders "Eigenlob" nicht grundlos war. In einem Vergleich mit dem Jahre 2002 wurde ein Rückgang von mehr als 1,49 Millionen sozialversicherspflichtiger Arbeitspätze festgestellt.

Die Elementar-Ebene der Freiheit ist die schiere Möglichkeit, Nein sagen zu können. Seitdem infolge der Hartz-Gesetze die Zumutbarkeit von Arbeit keine Grenzen mehr hat, darf zutreffend von allgemeinem Arbeitszwang gesprochen werden.
Die physische Bedingung der Möglichkeit des Lebens ist der Stoffwechsel, das schlichte Essen und Trinken. - Wer damit erpresst werden kann, nichts mehr zu bekommen, wenn er zu einem "Angebot" nicht Ja sagt, hat praktisch keine Freiheit mehr, er kann nicht mehr Nein sagen.
Bezogen auf einen Arbeitsvertrag bedeutet dies,
dass er der Vertragsfreiheit - also eines bürgerlichen Grundrechtes - beraubt worden ist.
Gemessen daran ist sogar die nun geltende Pflicht zur Offenlegung aller Lebensverhältnisse eine vergleichsweise geringe Entrechtung.

Während die Arbeitslosen nun unter dem Zwange stehen, bedingungslos jede Arbeit annehmen zu müssen, leiden die Arbeitenden zunehmend unter der Verdichtung von Arbeit in der Zeit. Anders gesagt: Der Leistungsdruck steigt für die Arbeitenden proportional zur Massenarbeitslosigkeit.

War unter einstigen geregelten Normalbedingungen die Einkommenshöhe die Motivation zur Arbeit, so wird Motivation zunehmend durch Druck und Zwang abgelöst.


Unter Druck geraten die Arbeitenden. Sie müssen sowohl Arbeitsverdichtung wie stagnierende und sogar sinkende Realeinkommen ertragen, wollen sie nicht arbeitslos werden. Solange Arbeit knapp war, ist die Kündigung eine freie Option der Arbeitenden, aber angesichts von Massenarbeitslosigkeit fällt die Kündigung als freie Option fast weg.

Unter dem Zwang, untertarifliche Arbeit bedingungslos annehmen zu müssen, stehen die Arbeitslosen. Das bedeutet, dass Arbeitslosen per Gesetz dazu verpflichtet sind, die Löhne der Arbeitenden zu drücken. Wollen sie sich nicht als Lohndrücker missbrauchen lassen, müssen sie mit der Streichung ihres Arbeitslosengeldes rechnen.
Die "Agenda 2010" setzt den Hebel bei den Arbeitslosen an, um letztlich auch die noch Arbeitenden zu treffen. Beide werden gegeneinander ausgespielt, zu Sozialschmarotzern bzw. Arbeitsplatzbesitzern stilisiert.

Auf diese Weise wird eine allgemeine Verunsicherung erzeugt.
Prekarität meint mehr als Verarmung, Niedriglohn-Sektoren und Teilsegmente des Arbeitsmarktes. Prekarität ergreift alle Lebens- und Arbeitsbereiche.
Für immer mehr Menschen wird die Existenzsicherung unter Vorbehalt gestellt: Gibt es einen Folgeauftrag? Wird mein Vertrag verlängert? Wird das Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld gestrichen? Wird der Betrieb geschlossen oder verlagert? Werde ich übernommen? Lande ich bei "Hartz IV"? Reicht das Geld - für den Urlaub, für die Ausbildung der Kinder, fürs nackte Überleben? Was passiert, wenn ich krank oder alt bin? Wenn ich ein Pflegefall werde oder jemand aus der Verwandtschaft? Diese grundsätzliche Verunsicherung erfasst alle Bereiche, und auch gut verdienende Freiberufler, Projektleiter etc. wissen sich bedroht.
Nie war der Krankenstand so niedrig wie im letzten Jahr - und es ist kaum anzunehmen, dass die Menschen gesünder geworden wären, eher ist mit der Furcht um den Arbeitsplatz und mit zunehmender Neurotisierung zu rechnen.
Diese Verunsicherung ist der eigentliche Inhalt der Agenda 2010. Es geht darum, die sozialen Sicherheitsbedürfnisse als „Vollkaskomentalität“ nachhaltig zu diskreditieren und Individualismus mit totalitärem Anpassungsdruck zu bekämpfen.
Ein kluger Gewerkschaftssekretär hat das mal so formuliert: "Der Sinn der sozialpolitischen Misere erfüllt sich vor allem darin, dass sich die Menschen fortlaufend nur noch mit ihrer ökonomischen Lage beschäftigen sollen."

Unter den Bedingungen der Prekarität wird mehr gearbeitet als je zuvor, es wird Arbeitskraft mobilisiert, wie kaum jemals zuvor, doch die Arbeit sichert keinen Wohlstand mehr, keine Zunahme an Freizeit. Je mehr "die Arbeit" ideologisch aufgewertet wird, desto fragwürdiger wird ihre Funktion.

Das konfuse Gefühl allgemeiner Bedrohung wird gesteigert, indem immer neue Vorschläge unterbreitet werden, wie der Sozialstaat weiter zersetzt werden könnte.
Zugleich wird medial das Leitbild vom allzeit motivierten und stets flexiblen Menschen geboten. In einer Atmosphäre von Druck und Zwang ist dieses Leitbild so absurd wie der Befehl: Sei spontan!

Die ganzen Hartz-Gesetze wurden als sogenannte "Reform der Arbeitsmarktes" propagiert, aber gerade der Marktcharakter des Arbeitsmarktes ist durch sie zerstört worden.

Erstens setzt der Begriff des Marktes voraus, dass Angebot und Nachfrage einander begegnen. Aufgrund der durchschnittlichen Produktivitätssteigerung ist das Arbeitsvolumen jedoch gesunken. Das heißt, bei Beibehaltung der langen Arbeitszeiten werden natürlich zunehmend weniger Arbeitende gebraucht. Einem steigenden Angebot an Arbeit begegnet die sinkende Nachfrage nach Arbeit.
Zweitens schließt der Begriff des Marktes aus, dass man zur Teilnahme an ihm bedingungslos gezwungen werden kann. Marktteilnahme basiert immer auf Freiwilligkeit. Das heißt z. B.: Der Sklavenmarkt war nicht für den Sklaven ein Markt, sondern nur für den Sklavenhändler, denn nur dieser ist der Marktteilnehmer gewesen, der Sklave hingegen die Ware.

Die Nachfrage nach Arbeitenden kann heute nur politisch durch Verkürzung der Arbeitszeit erreicht werden. Anders ist die weitere Entwertung von Arbeit nicht zu stoppen. Um den Arbeitspreis zu steigern, muss Arbeit knapp werden.
Erst unter Bedingungen annähernder Vollbeschäftigung bei weit geringeren Arbeitszeiten steigt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften bei der Preisbildung von Arbeit wieder an. Mit den Löhnen steigt die Güternachfrage.

Doch wer sind die lachenden Dritten? Die lachenden Dritten mögen einstweilen die Unternehmer sein. Sie überbieten sich in Zynismus. Fordern die einen die Verlängerung der Wochenarbeitszeit, fordern die anderen bereits die Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Was hieße die Erfüllung solcher Forderungen im Ergebnis? Natürlich nichts anderes als die weitere Steigerung der Massenarbeitslosigkeit, denn je mehr die Arbeitenden arbeiten, um so weniger bleiben von ihnen übrig.
Hinzu kommt, dass die jährliche Steigerung der Produktivität, die in Deutschland bei ca. 2 Prozent liegt, seit Jahren nicht mehr durch Arbeitszeitverkürzung oder Reallohnsteigerung ausgeglichen worden ist.
Mithin musste sich die Steigerung der durchschnittlichen Produktivität als Steigerung der Arbeitslosenquote auswirken.
Die lachenden Dritten lachen nur dann mit guten Gründen, wenn sie für den Export produzieren. Auch der Sachverständigenrat hat zugegeben, dass in den letzten Jahren der Binnenmarkt in Deutschland das eigentliche Problem darstellt, während der Export Rekorde erreicht hat.
Für Unternehmen, die für den Binnenmarkt produzieren, hat der Lohn der Arbeitenden hingegen eine nicht zu unterschätzende Nachfrage-Funktion.
Ohne Nachfrage gerät aber der Binnenmarkt in die unterkonsumtive Krise.

Die Prekarität hat inzwischen einen bedeutsamen Teil der Bevölkerung erreicht, in Deutschland 25 Millionen Menschen.
Diese Summe ergibt sich aus 8 Millionen Menschen, die einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen, deren Einkommen jedoch so gering sind, dass sie keine Steuern zahlen. Hinzu kommen 12 Millionen in nicht-versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen und 5 Millionen Erwerbslose.
Wenn sich diese 25 Millionen Menschen politisch bewußt organisierten, könnte die Unsicherheit des Lebens bald beseitigt sein.

Mindestforderungen, um den Prekarisierungsdruck nicht weiter zu steigern, wären:
Erstens:
Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich entsprechend der durchschnittlichen Produktivitätssteigerung für die Arbeitenden und
zweitens:
die Wiedereinführung des gesetzlichen Tarifes als Zumutbarkeitskriterium der Arbeitsaufnahme für Arbeitslose und
drittens:
die Wiedereinführung der Arbeitslosenhilfe oder eine deutliche Regelsatzerhöhung des ALG II für die Arbeitslosen.
Auch bei Erfüllung dieser Forderungen wäre die Arbeitslosigkeit nicht verringert, lediglich ihr weiterer Anstieg. Auch die Tendenz zur Deflation wäre noch nicht gebannt, doch wenigstens nicht gesteigert.
 
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