Der letzte Mann
Die Kristalle des Eises draußen tanzten einen taumelnden Tanz, hoben sich leicht und schwebend, stürzten in die Tiefe, jagten urplötzlich in glitzernden Spitzen übers Land, um dann jäh ins Ziellose zu ziehen. Wo Menschen sich ihnen in den Weg stellten, krallten sie sich in die Haut, die Atemschutz und Schal freiließen, aber sie schmolzen nicht, denn die Haut war so kalt wie das Eis selber, und es dauerte nicht lange, so bildeten sich um Augen und Lippen schimmernde Ringe.
Der Sturm raste über 35 Mann und eine Maschine, eine Ju. Ein paar Mal zogen die Leute die Fausthandschuhe aus und steckten die Finger in den Mund, und wer laufen konnte, trabte in Kreisen herum. Fünfunddreißig Mann, die letzten Verwundeten dieses Platzes ... Das Herz konnte sich einem im Leibe umdrehen, wenn man diese Menschen ansah, die so gekommen waren, wie die Schlacht sie entlassen hatte. Die letzte Maschine - das hieß die letzte Möglichkeit, hinter die Linie der Kameraden zu kommen.
Ist es begreiflich, daß sich um die Türe ein Knäuel bildete, der hinein wollte, schob und drängte und dennoch Disziplin bewahrte? Sechzehn Mann faßt der Leib des Riesenvogels, doch als die drin waren, schoben sich andere nach. Drinnen saßen sie in Hockstellung, schoben sich übereinander, drückten sich zusammen, aber noch standen sechs draußen. Die Bahren flogen hinaus, Kanister, Notbeleuchtung, sie zogen die Mäntel aus, krochen in den Führerstand, besetzten die Heckkanzel, doch immer noch waren drei Mann nicht geborgen. Die Munition ging den Weg des Inventars, Verbandszeug schuf Platz für einen weiteren Mann. Noch standen zwei Mann draußen ...
Doch es ging nicht allein um den Platz. Würde die Maschine mit der ungewöhnlichen Belastung hochkommen? Es gelang dem Piloten nicht, aus dem Führersitz zu kommen, und es konnte auch niemand hinein. Über drei anderen Kameraden stand in der Türe, die nicht mehr schloß, der zweitletzte von draußen. Und wenn sie nun die Farbe von den Wänden gekratzt hätten und die Türe ausgehangen und die Verbindungswände und das Funkgerät über Bord geworfen hätten, es wäre bei Gott niemand mehr hineingegangen. Im Schnee lag der letzte der Fünfunddreißig mit zerschossenen Knien.
Die letzte Maschine, die letzte Lebenschance. Wißt ihr, was das heißt, wenn man erst 22 Jahre alt ist und sich seit Wochen nicht gewaschen hat und nichts zu essen bekam außer einem Stückchen Brot, rohen Rüben und gekochtem Schneewasser und Tag und Nacht das Brüllen der Angreifer hörte, den Eisenhagel über sich ergehen ließ und das alles bei 40 Grad Kälte?!
Der Mann an der Tür, der über den dreien stand, stieg aus und ging zu dem Allerletzten und sagte: "Mir sind beide Arme zerschossen, aber du kannst nicht mehr laufen." Und so kam es, daß die drei anderen herauskletterten, ihn auf ihre Arme nahmen und quer über Köpfe und Beine legten, die den Raum bis unter das Dach füllten, um dann wieder in qualvoller Enge zu stehen. Fragt nicht danach, was sie dachten, fragt nicht danach, was der Gefreite aus Lüdenscheid in seiner Vorstellungswelt empfand, fragt nicht danach, was sie schrien und brüllten - es ging im Donner der Motoren verloren, und sie konnten es ja selbst nicht hören, und der Zurückbleibende konnte nicht antworten... Mit dem Rücken drückte der letzte Mann von draußen die Türe zu, von drinnen zogen sie Koppel durchs Schloß und hielten so die Türe mit zwei Mann geschlossen, so voll war die Maschine.
Auf einer Schneewelle des Flugplatzes saß ein einzelner Soldat, den Mantelkragen hochgeschlagen, darüber ein paar Tücher gewickelt, den Kopf in einer Pelzmütze, und sah der startenden Maschine nach. Ja, sie kamen gut vom Boden ab. Wie das sein konnte, soll hier nicht erklärt werden, aber es wird für alle Zeiten eine einzigartige Leistung eines Piloten bleiben. Mir ist kein weiterer Fall bekannt, daß ein Flugzeug um einen einzelnen Soldaten eine Ehrenrunde geflogen ist.
Der Pilot, der mir das alles erzählte, sagte, er hätte noch nie einen einsameren Menschen gesehen als den Gefreiten auf der Schneewehe des aufgegebenen Flugplatzes, der mit dem Kopf im Nacken in die Höhe starrte. Das einzige Farbige an ihm sei das Blut gewesen, von dem die Verbände braun ausgesehen hätten ...

Deutsche Zeitung in den Niederlanden, 22. Dez 1944