Interview mit Günther Schwarberg, Journalist und Zeithistoriker, zu seinem Buch "Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm"

Herr Schwarberg, bei der Befreiung von Auschwitz hat die Welt mit Erstaunen gesehen, daß Hunderte jüdische Kinder am Leben geblieben waren. Wie ist das zu erklären? Sie waren doch keine Arbeitskräfte, warum sind sie nicht ebenfalls umgebracht worden?

Ich kann Ihnen nur die Geschichte von 20 Kindern erzählen, die am Leben geblieben sind, weil man sie für medizinische Experimente benutzt hat. Die hatte man hierher nach Hamburg gebracht und dann, als die Experimente beendet waren, ermordert.
Um was für Experimente handelte es sich?
Das waren Tuberkulose-Experimente. Der SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeier hat den Kindern in die aufgeschnittene Haut aktive Tuberkulose-Erreger hineingerieben. Außerdem hat er diese Erreger mit einem Gummischlauch in die Lungenflügel eingeführt. Auf diese Weise wollte er testen, ob sich in den Körpern der Kinder Abwehrstoffe gegen Tuberkulose entwickeln, die man dann für einen Impfstoff gebrauchen könnte. Das ist nicht gelungen, es haben sich keine solchen Abwehrkräfte gebildet. Das hätte man auch wissen können, wenn er die Literatur dazu gelesen hätte, aber das hat er nicht getan. Am Ende des Krieges, also im April 1945, waren da nun 20 Kinder, übersät mit Narben, mit Geschwüren, herausoperierten Lymphdrüsen - unter beiden Armen hatte man sie herausoperiert - , und die Engländer waren nur noch sechs Kilometer von Hamburg entfernt. In dieser Situation hat man sich dann für die für Faschisten typische und einfachste Lösung entschieden: nämlich weg mit den Kindern, beseitigen.
Wie hat man sie ermordert
Vom Lager Neuengamme sind sie am 20. April in den Keller dieser Schule, die damals leerstand, gebracht worden. Sie wurden im Keller auf den Boden gelegt, bis sie eingeschlafen waren, nachts um elf Uhr war das. Dann hat ihnen ein anderer SS-Arzt namens Trzebinski Morphiumspritzen gegeben. Als die Wirkung einsetzte, hat ein SS-Mann den ersten Jungen, den zwölfjährigen Georges André Kohn aus Paris in den Arm genommen. Zu den anderen, die noch wach waren, sagte er, er würde jetzt ins Bett gebracht. Dann ist er mit dem Jungen in diesen Raum gegangen, wo an der Wand ein Haken mit einem Strick hing, den die SS-Leute mitgebracht hatten. In diese Schlinge hat er den Jungen eingehängt. Aber der Junge wog so wenig, er war so leicht, daß sich die Schlinge nicht zuzog. Daraufhin hat sich der SS-Mann mit an die Schlinge gehängt, bis sie zu war. Fünf Minuten hat er dort gehangen, bis der Junge erstickt war.
Anschließend haben sie ihn abgenommen, haben die Leiche in den Nachbarkeller gebracht, und dann wurde das nächste Kind erhängt. Die ältesten war zwölf Jahre alt, die jüngsten fünf - zehn Mädchen und zehn Jungen. Juden aus mehreren Ländern Europas, zwei aus Frankreich, zwei aus Holland, ein kleiner Junge aus Jugoslawien, die anderen kamen alle aus Polen. Am Morgen des 21. April 1945 waren sie alle tot. Ihre Leichen wurden nach Neuengamme gebracht und dort im Krematorium verbrannt.
Georges André Kohn
Die Täter wurden gefaßt, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Aber man hat damals nicht alle gefunden, drei waren untergetaucht: Der Mann, der das Kommando dabei hatte, der SS-Obersturmführer Arnold Strippel, also ein Oberleutnant; der Arzt Dr. Kurt Heißmeier und ein zweiter Arzt, Dr. Hans Klein. Die hat man nie gesucht. Hans Klein wurde dann Professor für Gerichtsmedizin an der Universität Heidelberg und hat dort bis zu seiner Pensionierung viele tausend Studenten ausgebildet. Der zweite, Dr. Heißmeier, wurde 17 Jahre nach Ende des Krieges in Magdeburg in der damaligen DDR entdeckt, vor Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt. In der Haft ist er dann gestorben. Und der Verantwortliche, der SS-Obersturmführer Strippel, ist wegen dieser Tat nie bestraft worden. Die Justiz hat auf Drängen der Angehörigen schließlich ein Verfahren gegen ihn eingeleitet, aber es zog sich jahrzehntelang hin, und als er dann endlich angeklagt wurde, war er angeblich verhandlungsunfähig. Jetzt lebt er in Frankfurt am Main, ist 80 jahre alt und so gesund, daß er oft sein Enkelkind in den Kindergarten bringt.
(Interview mit Günther Schwarberg vom 19. Juli 1991.)